Veröffentlichungen 2016
Aus: Akademie Aktuell 2. Hj. 2016

Von links nach rechts: Sigmar Gabriel (SPD), Angela Merkel (CDU), Horst Seehofer (CSU). Foto: Martin Rulsch, Wikimedia Commons, CC-by-sa 4.0

Sozialdemokratische kanzler und Bundespräsidenten – von links: Gerhard Schröder (Hinrich, Wikimedia commons, CC BY-SA 3.0), Helmut Schmidt (Bundeswehr Archiv, CC BY 2.0), Willy Brandt ( Bundesarchiv B 145, Bild F057884-0009), Johannes Rau (Bundesarchiv B 145, Bild F073459-0029), Gustav Heinemann (Bundesarchiv B 145, Bild F028544-0006)
Unser demokratisches System vor neuen Herausforderungen
Die Wahlerfolge rechtsgerichteter Parteien in Europa, des Fronts National in Frankreich, der FPÖ in Österreich und der AfD in Deutschland, aber auch die Entwicklungen in Finnland, den Niederlanden, Polen und Ungarn sowie die Vorwahlerfolge eines Donald Trump in den USA stellen unser demokratisches System vor neue Herausforderungen. Im Folgenden will ich mich mit den Entwicklungen in Deutschland in den letzten 12 Monaten beschäftigen.
Wie die drei Landtagswahlen in Deutschland im März 2016 zeigen, zwingen die Wahlerfolge der AfD die Parteien des demokratischen Spektrums zu ungewöhnlichen Koalitionen: SPD, FDP und Grüne in Rheinland-Pfalz, CDU, SPD und Grüne in Sachsen-Anhalt und Grüne und CDU in Baden-Württemberg. Im Bund, schon zwischen 2005 und 2009 und erneut seit 2013 von einer Großen Koalition regiert, droht diese Konstellation zum Dauerzustand zu werden. Das Ergebnis ist unter demokratietheoretischen Aspekten betrachtet eine kleine Katastrophe, denn 1. lebt Demokratie von einer starken Opposition (diese erst macht ein Regierungssystem zur Demokratie), und 2. braucht die Demokratie eine Alternative zur Mehrheit wie die Luft zum Atmen. Regieren aber CDU/CSU und SPD zusammen und verfügen über 80 % der Sitze im deutschen Bundestag, entfällt für den Wähler sowohl die Alternative als auch die Auseinandersetzung. Nach Jahren dieses Prozesses sucht sich der Wähler dann eine Alternative zu den „etablierten Parteien“, die sich mit dem geschickt gewählten Namen „Alternative für Deutschland“ nun anbietet.
Ihr Zulauf wird verstärkt durch die seit Jahren zu beobachtende und beklagte sinkende Wahlbeteiligung, zu der die etablierten Parteien keine Lösung gefunden haben. Gerade bei den bisherigen Nicht-Wählern punktet nun die AfD, und fragt man diese, was sie früher gewählt haben, reichen die Antworten von der CDU bis zur Partei „Die Linke“ mit starker Unterstützung aus dem früheren SPD-Wählerpotential.
Von der sinkenden Beteiligung an den Wahlen seit über zehn Jahren waren die Sozialdemokraten stärker betroffen als die Union, folgerichtig stürzte die Zustimmung zur SPD von 35% auf 23% ab. Aber auch CDU/CSU stellen eine Ursache für den momentanen Höhenflug der AfD, hat sich doch gerade die CDU von politischen Positionen entfernt, die jahrzehntelang ihr Markenzeichen gewesen sind: Abschaffung der Wehrpflicht, Ausstieg aus der Kernenergie, Einführung eines Mindestlohnes, Ausbau von Kita-Plätzen, Abkehr vom traditionellen Familienbild sind hierzu die Stichworte. Schenkt man den Umfragen der letzten Monate Vertrauen, dann sinkt nun die Zustimmung der Union von ihren 41% bei der Bundestagswahl von 2013 auf 35%. Nicht alle ihre ehemaligen Anhänger sind nun bei der AfD zu finden, ein Teil von ihnen bevorzugt die FDP, die nach ihrem Ausscheiden aus dem Bundestag 2013 wieder eine Blütezeit erlebt.
15 Monate vor der nächsten Bundestagswahl im September 2017 zeichnet sich heute folgendes Ergebnis ab: Eine Alternative zur Kanzlerschaft Angela Merkels ist 12 Jahre nach ihrer ersten Wahl zur Kanzlerin nicht in Sicht: SPD, Grüne und Linke sind weit von 50% der Sitze entfernt. Aber auch CDU/CSU und FDP kommen kaum auf eine absolute Mehrheit. Sollten CDU/CSU und Grüne ebenfalls unter 50% bleiben, bleibt zur Regierungsmehrheit nur die Fortsetzung des bisherigen Regierungsbündnisses aus CDU/CSU und SPD.
Zwar dürfte diese Konstellation 2017 über weniger als 80% der Sitze verfügen, die größte Oppositionspartei dürfte aber weiterhin weniger als 15% in die Waagschale werfen und damit kaum wahrgenommen werden. Das gesamte Spektrum der Opposition besteht dann aus so unterschiedlichen Parteien wie der FDP, den Grünen, den Linken und der AfD, jeweils zwischen 8 und 12% stark. Natürlich kann sich bis zum Wahltag noch manches verschieben, neue, unvorhergesehene Ereignisse das Ergebnis ganz anders ausfallen lassen. Im Moment aber deuten alle Umfragewerte der letzten drei Monate auf ein solches Ergebnis hin, ein Ergebnis, das unserem politischen System mehr Schaden zufügt als Nutzen bringt. Worin besteht der Schaden?
CDU/CSU und SPD verorten sich seit geraumer Zeit in dem Raum, den sie „politische Mitte“ nennen. Die CDU hat dabei konservativ-rechte Positionen (bitte nicht zu verwechseln mit rechtsextremen!) aufgegeben, die SPD hat nach dem Motto „Wahlen werden in der Mitte gewonnen“ ihr linkes Profil bis zur Unkenntlichkeit verkümmern lassen. In acht der letzten zwölf Jahre (bis zum Wahltermin 2017) haben sie gemeinsam Regierungspolitik gestaltet und sind daher für manche Wähler nicht mehr unterscheidbar.
Sollte es nach 2017 erneut zu diesem Regierungsbündnis kommen, werden kaum noch Wähler übrig sein, die nach zwölf Jahren des Regierens wissen, worin sich SPD und CDU unterscheiden. Am Ende dieses Prozesses wird sich eine der beiden ehemaligen Volksparteien abgeschafft haben und wie es momentan aussieht, wird es die SPD sein. Wer dies für utopisch hält, dem sei gesagt, Anfang der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts traf dieses SPD-Szenario auf die Christdemokraten in Italien zu und zurzeit erleben die Sozialisten in Frankreich ihren Niedergang, aber auch die Labour-Partei in Großbritannien befindet sich in diesem Abwärtsstrudel, und aus anderen Gründen befindet sich die Republikanische Partei in den USA ebenfalls in einem Selbstauflösungsprozess.
Wenn aus unserem demokratischen System eine Partei verschwindet, die jahrzehntelang zwischen 35 und 45% der Stimmen gewonnen hat, 20 Jahre den Kanzler gestellt hat (Brandt, Schmidt und Schröder) und zweimal den Bundespräsidenten, dann hinterlässt sie eine Lücke, die von anderen Kräften gefüllt werden wird.
Erstaunlich daran ist, dass der frühere Gegner der SPD, die CDU/CSU, davon nicht profitiert, stattdessen eine neue Partei auf den Plan tritt, von der niemand weiß, wohin sie sich entwickelt: Rechtsextreme Kräfte walten in ihr wie konservativ-rechte, die gemeinsam nur als Nein-Sager-Gruppe auffallen, wie ihr gerade verkündetes Parteiprogramm: Nein zu Flüchtlingen, Nein zum Euro, Nein zum Islam usw. Um unser demokratisches System lebensfähig zu halten, bedarf es Alternativen, Alternativen zur gerade bestehenden Mehrheit, Gegenentwürfe, neue Visionen und Zielsetzungen. Nein zu sagen bildet dabei keinerlei Alternative.
Ähnliches spielt sich in der CDU ab: Hier hat Angela Merkel eine Position errungen, in der es zu ihr keine Alternative zu geben scheint. Merkel selbst tritt ebenfalls in wichtigen Politikfeldern „alternativlos“ auf: Zur EURO-Rettung, zur Bankenrettung, zur Abkehr von der Atomenergie nach der japanischen Reaktorkatastrophe – alles ist alternativlos. Über eine längere Zeit angewendet, schadet dieses Verhalten aber dem Kern der Demokratie. Was bleibt zu tun?
Wenn wir unser demokratisches System erhalten wollen, dann müssen wir alle uns engagieren, neue Konzepte entwickeln, Zukunftsvisionen entwerfen, uns einbringen in den politischen Entscheidungsprozess. Dabei hilft politische Bildung, die in ihren Seminaren das Diskussionsforum bietet, sich mit unterschiedlichen Ideen auseinander zu setzen, Neues einmal durchzudiskutieren, aufgeschlossen ist für Visionen. Hier kann eine Art von Laboratorium entstehen, in dem der Demokratie neues Leben eingehaucht wird. Dazu lädt die Akademie Biggesee jede Bürgerin und jeden Bürger ein. Noch ist es nicht zu spät, sich aktiv einzuschalten in diesen Prozess und zu verhindern, ein anderes Deutschland zu bekommen, wie es sich die AfD auf ihre Fahne geschrieben hat.
Bernd Neufurth

Foto: UN Photo/Cia Pak (flickr.com, CC BY-NC-ND 2.0)

16. Jahreskonferenz des Rates für nachhaltige Entwicklung am 31. Mai 2016 in Berlin. Foto: Svea Pietschmann, © Rat für Nachhaltige Entwicklung

Foto: Uwe Hiksch, flickr.com, CC BY-NC-SA 2

Bild: United Nations, wikipedia.org, CC BY-SA 3.0
Entwicklungsland Deutschland
Die nachhaltigen Entwicklungsziele der UNO aus nationaler Perspektive
Milleniumsziele
15 Jahre lang hat sich die Weltgemeinschaft mit mehr oder auch weniger großem Einsatz an den so genannten Milleniumszielen (Millenium Development Goals, MDG) orientiert, die von der UN-Vollversammlung für den Zeitraum von 2000 bis 2015 verabschiedet worden waren. Verglichen mit früheren Vereinbarungen waren die Ziele recht umfassend, relativ konkret und mehrheitlich auch mit Jahreszahlen versehen. Zentrales Ziel war die Halbierung der weltweiten Armut bis 2015. Arm zu sein bedeutet dabei, den Gegenwert von weniger als 1,25 US-$ pro Tag zur Verfügung zu haben.
Zieht man nach Ende dieses Zeitraumes Bilanz, so lässt sich feststellen, dass tatsächlich in den letzten 15 Jahren einige positive Veränderungen zu erkennen sind, zugleich einige Ziele aber deutlich verpasst wurden. So ist zwar der Anteil der Menschen, die unter extremer Armut und Hunger leiden, von 47% der Weltbevölkerung auf 14% gesunken, was vor allem der wirtschaftlichen Entwicklung in Indien und China zu verdanken ist. In absoluten Zahlen leben jedoch aktuell immer noch 1,2 Milliarden Menschen weltweit von weniger als 1,25 US-$ täglich und fast 800 Millionen Menschen hungern.
Auch das achte Ziel, die Verpflichtung der Industrieländer, die Länder des Südens politisch, finanziell und technologisch zu unterstützen, liegt nach wie vor im Argen. Deutschland hat das bereits 1970 vereinbarte und in den MDGs erneut verankerte Ziel, 0,7% des Bruttoinlandsprodukts (BIP) für Entwicklungshilfe (Official Development Assistance, ODA) auszugeben, weit verfehlt. Im Jahr 2014 lag die deutsche ODA bei gerade einmal 0,42% des BIP (Quelle: Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung).
Aktuelle Ziele
Im September 2015 hat die Vollversammlung der Vereinten Nationen als Weiterentwicklung der MDGs die so genannte 2030-Agenda mit 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals – SDG) verabschiedet. Diese gehen deutlich weiter als die Milleniumsziele. Die SDGs kombinieren soziale, ökologische und ökonomische Nachhaltigkeit, setzen sich für Frieden, Rechtsstaatlichkeit und eine unabhängige Justiz ein.
Beim Betrachten der neu formulierten Ziele nachhaltiger Entwicklung (SDGs) fällt eines besonders ins Auge: Die Ziele sind nicht mehr nur für weniger entwickelte Länder oder Schwellenländer formuliert, sondern betreffen ebenso die Industriestaaten der Nordhalbkugel. Salopp gesagt, wird damit die Bundesrepublik Deutschland zum Entwicklungsland.
Die Erkenntnis, dass Probleme zwar vordringlich in den Ländern des Südens zutage treten und spürbar sind, an der Verursachung dieser Probleme jedoch die Industriestaaten häufig keinen geringen Anteil haben, ist nicht neu. Neu ist allerdings die Konsequenz, auch den Industriestaaten Entwicklungsziele vorzugeben. So ist für Deutschland das Ziel nachhaltiger und zeitgemäßer Energie für alle oder das Ziel nachhaltiger Konsum- und Produktionsmuster sicherlich ebenso eine Herausforderung wie für weniger entwickelte Länder.
Es handelt sich also um einen komplett neuen Ansatz der Entwicklungspolitik, der sich tatsächlich erstmals als global versteht. Es gibt damit konkrete, weltweite und vor allem vergleichbare Ziele.
Die 17 Ziele mit 169 Unterzielen sollen bis zum Jahr 2030 erreicht werden, ein ehrgeiziges Projekt unter dem Grundsatz „global denken – lokal handeln“, denn für die Umsetzung der Ziele sind die UN-Mitgliedsstaaten jeweils selbst verantwortlich. Zugleich wird es ein den Prozess begleitendes Monitoring geben, eine Überprüfung der Zielerreichung durch die UNO.
Bedeutung für die deutsche Politik
Der Rat für Nachhaltige Entwicklung (RNE) bewertet die SDG als „den wichtigsten Impuls für die deutsche Nachhaltigkeitspolitik seit 2002“ (seit Einführung einer offiziellen nationalen Nachhaltigkeitsstrategie in Deutschland).Die SDG beschäftigen sich mit unterschiedlichen Bereichen des Lebens. Es geht nach wie vor um die Bekämpfung von Armut und Hunger. Es geht aber auch um Gesundheitsvorsorge, Bildung und ein friedliches Zusammenleben (s.u. Liste der 17 Ziele)
Das entscheidende Instrument zur Umsetzung der SDG in Deutschland ist aus Sicht des Rates für Nachhaltige Entwicklung die nationale Nachhaltigkeitsstrategie. Diese muss jedoch deutlich erweitert und zu einem wirkungsvollen Instrument ausgebaut werden. Die nationale Nachhaltigkeitsstrategie in Deutschland wird regelmäßig alle vier Jahre fortgeschrieben. 2016 ist dies wieder der Fall. Dann müssen auch die Ziele der globalen Agenda für Nachhaltige Entwicklung einbezogen werden.
Für Deutschland könnten dabei Themen wie Konsum, Lebensmittelverschwendung, Stadtentwicklung, Armut und Ungleichheit in den Fokus rücken, die in den SDG aufgeführt werden, in der nationalen Nachhaltigkeitsagenda derzeit aber noch keine Erwähnung finden.
Pro Kopf verbrauchen wir Deutsche doppelt so viel an Ressourcen wie im Schnitt für jeden Menschen auf unserem Globus vorhanden sind. Der „Earth Overshoot Day“ (Weltüberlastungstag), der Tag, an dem die Nachfrage nach natürlichen Ressourcen die Kapazität der Erde zur Reproduktion dieser Ressourcen übersteigt, rückt – nicht zuletzt durch unser Zutun – immer weiter nach vorne. 2015 war es der 13. August.
In Deutschland werden jeden Tag 75 Hektar Landfläche zubetoniert. Bis 2020 soll der Flächenverbrauch auf 30 Hektar abgesenkt werden. Durch eine Änderung des Verkehrswegeplans könnte dem Ziel der „land degradation neutral world“, einer Welt, in der kein für die Biosphäre wichtiges Land mehr verloren geht, näher gekommen werden.
Im Bereich der ökologischen Landwirtschaft ist der Weg zum Ziel, 25% aller landwirtschaftlich genutzten Flächen ökologisch zu bewirtschaften, mit aktuell 6,5% noch weit.
Für den Bereich Bildung wurde im September 2015 die Nationale Plattform für Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) konstituiert, der 35 Expertinnen und Experten aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft angehören. Diese soll einen Nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der SDG erstellen. Innerhalb von fünf Jahren soll BNE in allen Bildungsbereichen verankert sein. Zudem soll der funktionale Analphabetismus in Deutschland bekämpft werden, der 7,5 Millionen Menschen von der vollständigen Teilhabe ausschließt.
Im Umweltsektor hat Deutschland mit der Energiewende in den vergangenen Jahren klar Stellung bezogen. Mit Blick auf die SDG wird es von großer Bedeutung sein, weiterhin als Vorreiter in Bereichen wie Klimagerechtigkeit und Biodiversität anderen Staaten als Vorbild zu dienen.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die neue Agenda es unverzichtbar erscheinen lässt, Nachhaltigkeit in allen Politikbereichen zu berücksichtigen und in die eigenen Ziele zu integrieren. Klare Ziele müssen definiert werden, an denen sich jede Regierung messen lassen kann und muss.
Ein Blick auf die Unterziele der SDG macht deutlich, dass eben diese klaren Zielvorgaben fehlen bzw. die Ziele nicht so hoch gesteckt sind, wie es zunächst den Anschein hat. Geht es im ersten Ziel zunächst darum, Armut in all ihren Formen zu beenden, wird im Unterziel 1.2 gefordert, den Anteil derjenigen, die in Armut in all ihren Dimensionen leben, mindestens um die Hälfte zu senken. Hier wird das Ziel deutlich eingeschränkt.
Da der Finanzbedarf der neuen Agenda im Vergleich zu den Milleniumszielen höher ist, ist es umso wichtiger, dass Deutschland seine ODA endlich auf die vereinbarten 0,7% des BIP anhebt.
Die Beschlüsse der UN-Vollversammlung sind zwar eine politische und moralische Verpflichtung, völkerrechtlich bindend sind sie jedoch nicht. Besonders essentiell wird es daher sein, die Umsetzung der SDG auch aus den Reihen der Zivilgesellschaft zu begleiten und zu unterstützen. Je stärker nachhaltige Entwicklungen von der Gesellschaft eingefordert werden, desto stärker treten sie in den Fokus der Regierenden.
Dies werden Fragen sein, mit denen wir uns auch in Deutschland in den nächsten 15 Jahren auseinandersetzen müssen. Aktiv einbringen können sich Bürgerinnen und Bürger nicht nur durch Nachhaltigkeit im eigenen Alltag, sondern auch durch die Mitgestaltung der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie in Deutschland. Über die Adresse Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein! können alle Interessierten ihre Anregungen, Ideen und Vorschläge einreichen.
Also beteiligen Sie sich aktiv, bringen Sie Ihre Ideen und Ihre Kritik ein, fordern Sie klare Formulierungen sowie nachprüfbare Ziele und leben Sie nachhaltig für eine weltweite friedliche Zukunft.
Ines Gerke-Weipert
Weiterführende Links:
- www.bundesregierung.de/Webs/Breg/DE/Themen/Nachhaltigkeitsstrategie/_node.html
- www.nachhaltigkeitsrat.de
- www.brot-fuer-die-welt.de/themen/bewahrung-der-schoepfung/nachhaltigkeit/2030-agenda.htm
Die 17 Ziele nachhaltiger Entwicklung
- Weltweit Armut in allen ihren Formen beenden
- Hunger beenden, Ernährungssicherheit und verbesserte Ernährung erreichen und eine nachhaltige Landwirtschaft fördern
- Ein gesundes Leben für alle Menschen jeder Altersgruppe gewährleisten und ihr Wohlbefinden fördern
- Gerechte Bildung von hoher Qualität gewährleisten und Möglichkeiten des Lebenslangen Lernens für alle fördern
- Gleichstellung der Geschlechter und Stärkung aller Frauen und Mädchen erreichen
- Verfügbarkeit und nachhaltige Bewirtschaftung von Wasser und Sanitärversorgung für alle gewährleisten
- Zugang zu erschwinglicher, verlässlicher, nachhaltiger und moderner Energie für alle sicherstellen
- Dauerhaftes, inklusives und nachhaltiges Wirtschaftswachstum, produktive Vollbeschäftigung und menschenwürdige Arbeit für alle fördern
- Eine belastbare Infrastruktur aufbauen, Industrialisierung im Sinne der Nachhaltigkeit und Innovationen fördern
- Ungleichheit in und zwischen Staaten verringern
- Städte und Siedlungen inklusiv, sicher, belastbar und nachhaltig machen
- Für nachhaltige Konsum- und Produktionsmuster sorgen
- Umgehend Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels und seiner Auswirkungen ergreifen
- Ozeane, Meere und Meeresressourcen erhalten und für eine nachhaltige Entwicklung nutzen
- Ökosysteme schützen und ihre nachhaltige Nutzung fördern, Wälder nachhaltig bewirtschaften, Wüstenbildung bekämpfen, Bodenverschlechterung und Verlust der Artenvielfalt stoppen
- Friedliche und nachhaltige Entwicklung von Gesellschaften fördern, Zugang für alle zur Justiz ermöglichen, wirksame und zur Rechenschaft verpflichtete Institutionen aufbauen
- Mittel zur Umsetzung der 2030-Agenda stärken und die globale Partnerschaft für nachhaltige Entwicklung wiederbeleben
Quelle: Rat für Nachhaltige Entwicklung (2015) Länder in Entwicklung. Globale Nachhaltigkeitsziele. Die Übersetzung der Zielformulierungen ist leicht abgeändert.

Foto links: Peronimo, Wikimedia commons, CC-BY-2.0, Foto rechts: Pedelecs, Wiki commons, CC BY-SA 3.0

Foto: Olaf Teuerle, flickr.com, CC BY-NC-SA 2.0
Arm und Reich – Soziale Gerechtigkeit und die Zukunft der Demokratie
Soziale Gerechtigkeit ist ein Schlüsselbegriff moderner Demokratien. Dennoch herrscht keine Einigkeit darüber, welche gesellschaftlichen Zustände darunter verstanden werden sollen und was Gerechtigkeit eigentlich genau bedeutet. Für die einen ist das Leben in Industrienationen mit viel Teilhabe, Macht, Bequemlichkeit und Komfort verbunden, für die anderen wird die seit Jahrzehnten zu beobachtende wachsende Ungleichverteilung von Bildung, Chancen und Ressourcen zu einem Existenzproblem und ist Auslöser von Ängsten.
Ungerechte Lebensbedingungen engen Handlungsspielräume nicht nur ein, sondern bedrohen auch die Demokratie. Der britische Politikwissenschaftler Colin Crouch stellte beispielsweise die These auf, dass die westlichen Demokratien zwar noch eine demokratische Hülle hätten, in ihrer Substanz aber entdemokratisiert seien. „Die Mechanismen der Demokratie wie zum Beispiel Wahlen oder der Parlamentarismus funktionierten zwar noch oberflächlich; faktisch nehme im politischen System der Einfluss privilegierter Eliten, insbesondere aus der Wirtschaft zu.“ Vor diesem Hintergrund hängen Moralpolitiken und damit verbundene Konflikte und Entscheidungsprozesse weniger vom jeweiligen Regelungsgegenstand ab als vielmehr von den Wertvorstellungen derer, die sich mit ihrer Problemsicht im politischen Prozess durchsetzen können.
„Unter Gerechtigkeit werden moralisch begründete, akzeptierte und wirksame Verhaltens- und Verteilungsregeln verstanden, die Konflikte vermeiden, welche ohne die Anwendung von Gerechtigkeitsregeln bei der Verteilung begehrter Güter oder ungeliebter Lasten auftreten würden. Wie alle moralischen Regeln, so setzen auch Normen sozialer Gerechtigkeit voraus, dass Menschen ihr Verhalten und Verteilungsprozesse gestalten können.“ (Stefan Hradil, Soziologe). Wie ist nun also der Zusammenhang zwischen den Phänomenen sozialer Ungleichheit und der Zukunftsfähigkeit unserer Demokratie zu denken?
Mit der grundgesetzlichen Aussage „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ sollte eigentlich der Kurs für das gesamte politische und gesellschaftliche Leben bestimmt sein. Art.1 GG gibt somit eine verbindliche Orientierung für Lösungen in politischen und sozialen Entscheidungsprozessen vor. Politische Grundwerte wie Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichheit, Solidarität, Frieden und Sicherheit fokussieren sich allesamt in der Würde des Menschen. Für das Zusammenleben und das Funktionieren einer Demokratie haben die Grundwerte somit eine hohe Bedeutung. Der Schutz der Menschenwürde stellt eine verbindliche Norm dar, sie ist die Grundlage für die unbedingte Geltung von Menschenrechten und kommt jedem einzelnen Menschen als angeborenes unveräußerliches Recht zu. Menschenrechte werden nicht von einem Staat gewährt, sie sind dem Staat vorgegeben, sie müssen von ihm anerkannt und geschützt werden. „Jeder hat das Recht auf einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung und notwendige soziale Leistungen …“ heißt es in Artikel 25 der für Deutschland verbindlichen Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Das Grundgesetz sowie die Erklärung der Menschenrechte werden zwar in großen Teilen der Gesellschaft prinzipiell bejaht, das Ganze wird allerdings komplizierter und ernüchternder, wenn wir uns dem Alltag nähern und insbesondere das Thema Armut in den Blick nehmen.
Jeder sechste in Deutschland lebende Mensch gilt als armutsgefährdet, über 330.000 Menschen leben ohne eigene Wohnung, viele finden keinen Zugang zu medizinischer Regelversorgung (nak, Nationale Armutskonferenz). Als armutsgefährdet gilt, wer mit weniger als 60 % des so genannten bedarfsgewichteten Einkommens der Gesamtbevölkerung auskommen muss. Die Armutsrisikogrenze lag somit 2014 für 1-Personen-Haushalte bei einem monatlichen Einkommen von ca. 900 EUR und die Armutsgrenze bei 750 EUR (Berechnung nationaler Armut, in: www.armut.de).
Wie eine Gesellschaft ihre Armen behandelt, ist der Maßstab dafür, ob sie als human, sozial und demokratisch gelten kann. Als typische Armut in modernen Gesellschaften gilt die relative Armut, weil sie sich am Lebensstandard und an den Maßstäben der jeweiligen Gesellschaft bemisst. Hiernach wird als arm angesehen, wer so wenig zur Verfügung hat, dass er von der Lebensweise ausgeschlossen ist, die im jeweiligen Land als Minimum annehmbar gilt. Unter diesem Minimum wird immer weniger ein Lebensstandard, sondern die Teilhabe an wesentlichen gesellschaftlichen Bereichen verstanden. In diesem Sinne hat die Armut in Deutschland in den letzten Jahren zugenommen. 2014 waren 15,4 % aller Deutschen von Armut bedroht.
Doch viel aufschlussreicher als das Zahlenmaterial sind die gesellschaftlichen Hintergründe der Armut sowie die Gesamtschau auf die Wirkungskette aus wachsender sozialer Ungleichheit und ungleicher politischer Partizipation. Armut ist ein mehrdimensionales Problem, das ökonomische, soziale und kulturelle Aspekte umfasst: Mittellosigkeit, ein länger andauernder Mangel an lebensnotwendigen Gütern und Dienstleistungen, die Notwendigkeit, staatliche Unterstützung in Anspruch zu nehmen sowie Mängel im Bereich der Wohnung, des Wohnumfeldes, der Haushaltsführung, Ernährung, Gesundheit, Bildung, Freizeit und Kultur sind nur einige Merkmale von Armut. Viel weitreichender sind der Ansehensverlust sowie der Ausschluss der betroffenen Person von einer Beteiligung am gesellschaftlichen Leben. Hierzu gehört, so der Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge, „die Macht- und Einflusslosigkeit der betroffenen Personen in allen gesellschaftlichen Schlüsselbereichen, d. h. den Gremien der Wirtschaft, Politik, staatlicher Verwaltung, Wissenschaft und Massenmedien, wo die ganze Gesellschaft betreffende und auch für sie selbst bindende Entscheidungen getroffen werden“ sowie „eine allgemeine Missbilligung der Lebensweise“ der Armen, die infolgedessen „marginalisiert, negativ etikettiert und stigmatisiert, d. h. ausgegrenzt und in der Regel selbst für ihr Schicksal verantwortlich gemacht werden, während man dessen gesellschaftliche Determiniertheit und seine Hintergründe tunlichst ignoriert bzw. negiert.“
Die Entwicklungen machen deutlich, dass wir es in Deutschland, so der Soziologie Olaf Groh-Samberg, mit einer zunehmenden „Verfestigung von Armut“ zu tun haben. Dabei sind „vor allem Familien der Arbeiterschicht, mit mehreren Kindern oder alleinerziehenden Müttern oder Vätern sowie Menschen mit Migrationshintergrund“ betroffen.
Soweit unsere demokratischen Zielvorstellungen von politischen Grundwerten getragen werden, können wir die gegenwärtigen Bedingungen des Zusammenlebens mit marginalisierten Gruppen nicht akzeptieren. Denn die Krise der Demokratie ist im Verlust politischer Gleichheit zu verorten. Die Zukunftsfähigkeit demokratischer Systeme wird maßgeblich davon abhängen, inwieweit es gelingt, politische Grundwerte wieder nachhaltig, wahrnehmbar und respektvoll in die Lebenswelten der von Armut betroffenen Menschen zurückzuführen. Die politische Entfremdung von beachtlichen Teilen der Bürgerschaft ist nur ein Ausdruck von wahrgenommener Ungleichheit. Es hat Folgen für das Gemeinwesen und das Zusammenleben, wenn die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden. Wir benötigen eine zukunftsgerechte, partizipative Demokratie mit transparenter und argumentativer Klarheit, ausgestattet mit einem gerechten und würdevollen Blick auf die Lebenswirklichkeit der Menschen. In diesem Sinne scheint die Demokratie reformbedürftig, sie ist somit neu zu denken und zu gestalten. Insbesondere die parlamentarische Repräsentation sollte sich auf alle Ebenen der Gesellschaft beziehen, direkte und innovative Beteiligungsformen bei Entscheidungsprozessen könnten demzufolge vorangebracht werden. Die Dominanz der Wirtschaft sollte beschränkt werden. Neue Wege im Hinblick auf eine Gemeinwohl-Ökonomie sind auszuloten. Soziale Grundsicherungen müssen bedarfsdeckend, armutsschützend und repressionsfrei sein.
In einer zukunftsfähigen Demokratie setzen sich alle Bürger für würdevolle, gerechte, gleiche, nachhaltige und freie gesellschaftliche Bedingungen ein – damit die Zukunft für viele Menschen wieder ein Versprechen und keine Bedrohung darstellt.
Dr. Robert Schmidt
Weiterführende Links
- Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung: www.armuts-und-reichtumsbericht.de
- www.armut.de
- http://nationalearmutskonferenz.de/
Literaturhinweise
- Christoph Butterwegge: Armut in einem reichen Land. Wie das Problem verharmlost und verdrängt wird. Bonn 2012
- Colin Crouch, Postdemokratie. Frankfurt am Main 2008
- Olaf Groh-Samberg: Armut verfestigt sich – ein missachteter Trend. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, H. 51-52, S.9-15
- Stefan Hradil: Soziale Ungleichheit. Eine Gesellschaft rückt auseinander. In: Stefan Hradil (Hg): Deutsche Verhältnisse. Eine Sozialkunde. Bonn 2013
- Thomas Ebert: Soziale Gerechtigkeit. Ideen, Geschichte, Kontroversen. Bonn 2015
- Christian Felber. Gemeinwohl-Ökonomie. Wien 2010

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