Aktuelle Veröffentlichungen
Aus: Akademie Aktuell 1. Hj. 2021

Viele Seiten einer Pandemie oder: Es ist nicht alles schlecht!
Die aktuelle Corona-Pandemie hat in fast allen Lebensbereichen negative Auswirkungen und trifft uns nicht nur wirtschaftlich. Immer mehr Menschen leiden unter den wachsenden psychischen Belastungen und fühlen sich mit den neuen Herausforderungen allein gelassen.
Andere wiederum erkennen weder die Existenz des Virus an noch sind sie gewillt, die staatlichen Maß-nahmen zu befolgen. Sie sehen in den Vorschriften eine unzulässige Bevormundung und fühlen sich ihrer persönlichen Freiheiten beraubt. Noch extremer sind die BürgerInnen, die in all dem eine Verschwörung vermuten. Für mich absolut unverständlich und sogar beängstigend. Gegensätzliche Lebenswelten prallen aufeinander: ÄrztInnen und IntensivpflegerInnen, die täglich mit dem Virus um Menschleben ringen, und andere, die trotz inzwischen nachgewiesener Wirksamkeit des Mund-Nase-Schutzes genau diesen nicht tragen und damit das Infektionsgeschehen beschleunigen.
Eine Sache scheint mir besonders wichtig, die man mit „Vorsicht ist besser als Nachsicht“ überschreiben könnte: Selbst wenn ich Zweifel an der Pandemie und den offiziellen Darstellungen habe, vergebe ich mir doch nichts, wenn ich eine Maske trage, Hygieneregeln einhalte und Abstand zu Menschen aus anderen Haushalten wahre. Aber die Maske ist für einige Skeptiker offenbar ein rotes Tuch. Die Maske muss weg, warum auch immer und koste es, was es wolle. Seine kritische Meinung und eine offene Aussprache kann man aber auch mit Maske äußern bzw. führen. Dadurch wird niemand mundtot gemacht. Der Blick in andere Regionen der Erde zeigt zudem, dass die Länder mit klaren und deutlichen Regelungen, relativ gut durch die Krise kommen; dort gibt es weniger Infizierte und weniger Tote. In Ländern mit populistisch eingefärbten Regierungen, die das Virus oder seine Gefährlichkeit leugnen, ist die Zahl der Infizierten und Toten signifikant höher.
Letztlich geht es um die Werte wie Anstand, Respekt, Solidarität und Rücksichtnahme. Keine Maske zu tragen gefährdet vornehmlich andere Menschen und zeugt von Ignoranz und Respektlosigkeit. Die Freiheit, keine Maske zu tragen gefährdet das Leben und die Freiheit der Mitmenschen. Falls die Querdenker und Leugner selbst infiziert sind, werden sie ebenso gut medizinisch behandelt wie alle anderen. Das ist richtig und gut so, macht aber die asymmetrische und unsolidarische Situation deutlich. Mediziner und Pflegepersonal in den Krankenhäusern werden dadurch zusätzlich und unnötig belastet.
Bei allen negativen Wirkungen der Pandemie gibt es aber auch positive Aspekte:
Diskussionen über den richtigen politischen und gesellschaftlichen Weg werden engagierter geführt als früher. Das stärkt den Diskurs und eine lebendige Demokratie. Die Menschen mischen sich mehr ein. Hohe Wahlbeteiligungen sind u.a. Ausdruck dieser Entwicklung. Sowohl in Deutschland als auch in anderen Ländern war die Wahlbeteiligung hoch– insbesondere in den USA war sie so hoch wie nie.
Die stark einseitige nationale und pandemieleugnende Politik der USA macht uns Europäern klar, dass wir konsequenter einen eigenen Weg und eine eigenständigere europäische Politik brauchen, wenn wir zwischen den Weltmächten eine hörbare Stimme und einflussreiche Position behalten wollen. Diese Erkenntnis kann der europäischen Integration und Identität neuen Schwung verleihen.
Die Digitalisierung hat mit der Pandemie in Deutsch-land einen deutlichen Fortschritt gemacht. Die Bedeutung digitaler Infrastruktur und Endgeräte ist uns bewusster als zuvor und die Ausstattung von Schulen, öffentlichen Einrichtungen und Firmen gewinnt an Fahrt. Homeoffice entwickelt sich in vielen Bereichen zu einer echten Alternative.
Im Bereich der Bildung, wo digitale Geräte und Methoden eingesetzt werden, wird klar, dass es neben einer guten Ausstattung auch auf digital kompetente Lehrkräfte und gut funktionierende Einrichtungsstrukturen ankommt: Lehrkräfte sollten neben ihrer Unterrichtstätigkeit nicht als Haustechniker oder für die Netzwerkinstallation und -administration tätig sein müssen, was an vielen deutschen Schulen Alltag ist/war.
Die Globalisierung kommt mehr und mehr auf den Prüfstand und gilt nicht mehr per se als perfektes Muster einer wohlstandsmehrenden Welt-Wirtschaft. Negative Wirkungen und Auswüchse werden sichtbar und es finden verstärkt kritische Diskussionen und Veränderungen statt. Man wird nicht mehr als Systemgegner und Feind der Marktwirtschaft angesehen, wenn man heute die negativen Entwicklungen im Rahmen der Globalisierung kritisiert und diese verändern möchte.
Die Zusammenarbeit auf (medizin-) wissenschaftlicher Ebene gelingt auch und gerade in diesen Zeiten. Wissenschaftler sind weiterhin kooperativ, forschen und teilen wissenschaftliche Erkenntnisse und Ergebnisse. Damit gelingt in unserer vernetzten Welt eine Wissensentwicklung, die einen besseren Umgang mit dem Virus und den aktuellen Herausforderungen ermöglicht. Erkenntnisse, Methoden und Ergebnisse kontrovers zu diskutieren, gehört selbstverständlich dazu und sollte nicht fälschlicherweise als Schwäche, Unwissen- oder Zerstrittenheit ausgelegt werden. Erste Impfstoffe gegen das Virus scheinen zum Greifen nah und das innerhalb kurzer Zeit, ohne die Zulassungsregeln zu verletzen.
Unser traditionsreicher Föderalismus kommt ob der zahlreichen Ungereimtheiten und Unzulänglichkeiten – manche sprechen auch von Ungerechtigkeiten – bei der Bekämpfung der Pandemie ebenfalls auf den Prüfstand. Eine einheitliche politische Vorgehensweise ist im Föderalismus schwer und offensichtlich kaum möglich. Der Reformbedarf wird unübersehbar.
Das Positive dieser Entwicklungen: Neue Erkenntnisse, aktuelle Schwierigkeiten und Unzufriedenheit können der Motor für künftige Veränderungen, Anpassungen und Verbesserungen unserer Sozialen Marktwirtschaft sein. Wichtig dabei ist, dass wir die Aufgaben angehen und nicht einfach zur Tagesordnung übergehen, wenn die Zeiten wieder besser oder „normal“ werden.
Dabei ist jedoch nicht zielführend, wenn bei der Pandemiebekämpfung immer nur die Fehler, Defizite und vermeintlichen Ungerechtigkeiten gesucht werden. Ja, die gibt es in vielfältiger Form, aber es gab keine Blaupause für Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Von daher gehören Fehler mit dazu. Dennoch wurde m. E. sehr vieles richtig und gut gemacht und die Politik hat erkennbar aus früheren Krisen gelernt. Das zeigen nicht nur die neuesten Daten und Prognosen zur wirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland, die besser sind als befürchtet.
Wenn wir jedoch immer und fast ausschließlich nur die Defizite politischer Maßnahmen heraus- und damit gleich die Krisenbewältigung insgesamt in Frage stellen, dann schwindet die Akzeptanz sowie die Bereitschaft persönliche Einschränkungen hinzunehmen.
Vieles geht jedoch in eine richtige Richtung und es sind zunehmend neue Einsichten, Erfolge und Fortschritte zu verzeichnen. In dem Sinne sollten wir zuversichtlich bleiben sowie langfristig solidarisch denken und handeln.
Johannes Robert Kehren

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Politische Bildung in Zeiten der Corona-Pandemie
Möglicherweise können Sie es nicht mehr hören: es gibt keine Zeitungsausgabe, keine Fernsehsendung, keinen Radiobeitrag und kaum mehr ein Privatgespräch, in dem es nicht um die Corona-Pandemie geht. Nichts hat in den vergangenen Jahren das politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben mehr bestimmt als dieses Virus. Und natürlich bestimmt es auch in hohem Maße das Aufgabengebiet und den Arbeitsalltag der Akademie als Einrichtung der Politischen Bildung.
Gehen wir es einmal grundsätzlich an: Worin besteht denn die Kernaufgabe Politischer Bildung? Politische Bildung organisiert im weitesten Sinne Lernprozesse, um eigene, reflektierte und verantwortungsvolle Entscheidungen im gesellschaftlichen und politischen Leben treffen zu können. Das Wissen – wie auch immer es methodisch zustande kommt – dient der Weiterentwicklung, Stärkung und – wenn nötig – Verteidigung der freiheitlichen Demokratie. Die Lernprozesse sind kommunikativ: sie vermitteln nicht nur Wissen, sondern immer auch soziale Kompetenzen. Genau für diese Aufgabe ist die Akademie Biggesee 1951 als Seminar für Staatsbürgerkunde e.V. gegründet worden, dafür ist 1979 das eigene Akademiegebäude in Attendorn errichtet und 1981 in Betrieb genommen worden und dafür ist die Arbeit umfänglich staatlich anerkannt worden. Und konsequenterweise wird dafür unsere politische Bildungsarbeit umfänglich staatlich gefördert – ausdrücklich auch in Zeiten dieser Krise, in der sie nur sehr eingeschränkt stattfinden kann!
Die Corona-Pandemie hat uns weltweit vor extreme Herausforderungen gestellt. Die Maßnahmen, die von der Politik zur Eindämmung der Verbreitung im März des Jahres getroffen worden sind, waren hart, aber offensichtlich richtig und notwendig. Weder war das Virus bekannt noch gab es jüngere Erfahrungen mit Instrumenten für den Umgang mit vergleichbaren Mega-Problemen. Zwischenzeitlich gingen die Inzidenzzahlen zurück und die Bildungsarbeit konnte wieder etwas Fahrt aufnehmen – von Normalität aber noch weit entfernt. Der erneute Anstieg der Infektionszahlen im Oktober hat wieder zu heftigen Einschränkungen des gesamten gesellschaftlichen Lebens geführt. Das führt nicht nur zu Verständnis und Einsicht in die Notwendigkeit der einschränkenden Maßnahmen: es mehren sich auch Demonstrationen gegen die staatlichen Einschränkungen, krude Verschwörungs„theorien“ greifen Raum, Grundrechtsdebatten finden ihre Bühne.
In der Krise fällt der Politischen Bildung eine besondere Aufgabe zu: sie muss gerade jetzt durch geeignete Bildungsprojekte zur Stärkung und Sicherstellung der freiheitlichen Demokratie beitragen. Politische Bildung muss deshalb auch dem berechtigten Diskurs um die Verfassungsmäßigkeit politischer Entscheidungen den notwendigen Raum bieten – diese Debatte, wenn nötig, auch anstoßen. Sie muss aber auch – und das erscheint nicht weniger wichtig – die Vermittlung korrekt erwirkter politischer Entscheidungen voranbringen und notfalls um der Demokratie Willen verteidigen.
Schwierig wird es, wenn der Politischen Bildung selbst ihre Existenzgrundlage entzogen wird. Dies kann ja durchaus geschehen und ist nachvollziehbar, wenn – so im März und April geschehen – das gesamte öffentliche Leben heruntergefahren wird, um Kontakte zwischen Menschen und damit die Verbreitung des Virus einzudämmen. In dieser Zeit musste auch die Akademie Biggesee geschlossen werden, mit allen bekannten persönlichen Folgen für die Beschäftigten und wirtschaftlichen Folgen für die Einrichtung insgesamt. Das anschließende Wiederanfahren des öffentlichen Lebens wird in NRW seitdem durch Corona-Schutzverordnungen geregelt. Sie regeln, was unter welchen Bedingungen erlaubt oder verboten ist. Aktuell (im November 2020) gilt ein Verbot der Durchführung von Veranstaltungen der politischen Bildung in NRW, das in weiten Kreisen der Träger Politischer Bildung vorsichtig ausgedrückt auf Unverständnis stößt, da genau in diesem Verordnungszusammenhang Veranstaltungen der berufsbezogenen Bildung und z.B. der Musikunterricht in außerschulischen Bildungseinrichtungen erlaubt sind. Ohne die Systemrelevanz des einen Angebots gegen das andere abwägen zu wollen muss die Frage gestellt werden, ob berufsbezogene Bildungsangebote weniger infektiös sind als politische Bildungsangebote. Seitens der Politik ist diese von uns gestellte verfassungsrelevante Frage der Gleichbehandlung bis zum Redaktionsschluss noch nicht endgültig beantwortet worden.
Kommen wir schließlich zu einer weiteren Kernfrage: Wie stellen sich in der Corona-Krise die inhaltlichen Aufgaben und Themen der Politischen Bildung dar? In den Räumen der Bildungsarbeit, seien sie nun digital oder präsent, muss der Diskurs darüber geführt werden, inwieweit und wie lange Regieren mit Erlassen und Verordnungen ohne Einbeziehung der Parlamente erlaubt ist. Es müssen die zunehmenden Verschwörungsnarrative identifiziert und entlarvt werden – mit einem Diskurs nach Faktencheck! Wir müssen prüfen, ob die Corona-Krise ein Wegbereiter des Extremismus – rechts wie links – ist und wie dem zu begegnen ist. Die Krise verlangt, den Föderalismus ergebnisoffen auf den Prüfstand zu stellen, darüber müssen wir reden. Und letztendlich müssen wir in der Politischen Bildung die Frage diskutieren, ob, wie intensiv und wie lange die Stärkung des Gesundheitsschutzes der Bevölkerung die Einschränkung von Grundrechten rechtfertigt. Die Politische Bildung hat nicht die Antworten, aber sie muss die Räume bieten, diese Fragen zu stellen und die Antworten zu suchen.
Hoffen wir gemeinsam in diesem Sinne auf einen baldigen Weg zurück zur Normalität, die allerdings, das ist schon jetzt absehbar, eine andere sein wird als vor der Krise.
Udo Dittmann

Annegret Kramp-Karrenbauer beim Grimme-Preis 2018, am 13.04.2018 in Marl. Foto: 9EkieraM1, commons.wikimedia.org

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Positionsbestimmung für die Politische Bildung – Was sie kann und was sie nicht kann
Der 14. September 2020 war ein besonderer Tag. Erstmals seit Bestehen des Netzwerks Politische Bildung in der Bundeswehr fand ein Gespräch zwischen politischen Bildnern und der politischen Führung der Streitkräfte auf höchster Ebene statt. Vertreter verschiedener Bildungseinrichtungen aus ganz Deutschland trafen sich in Berlin mit der Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer, ihrem Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Peter Tauber, der stellvertretenden Leiterin der Bundeszentrale für politische Bildung Cemile Giousouf, Generälen und hochrangigen Beamten des Bundesministeriums der Verteidigung.
„Prävention und Kampf gegen Rechtsextremismus“ stand auf der Tagesordnung. Anlass waren, dies dürfte keine Überraschung sein, vermehrte Erkenntnisse über rechtsextremistische Vorfälle und Einstellungen in der Truppe. An exponierter Stelle war hier die Eliteeinheit Kommando Spezialkräfte (KSK) im Frühsommer in den medialen öffentlichen Fokus geraten.
Der Präsident des Militärischen Abschirmdienstes (MAD) Christof Gramm verkündete im Juni: „Auch wenn die ganz große Mehrheit der Soldatinnen und Soldaten verfassungstreu ist und Rechtsextremismus in der Gesellschaft und in der Bundeswehr kein neues Phänomen bildet, haben wir dennoch eine neue Dimension festgestellt.“1
In der Tat sind Militär und Polizei für Menschen mit einer rechtsradikalen oder rechtsextremen Einstellung leider von besonderer Attraktivität, weswegen die Wachsamkeit hier besonders groß sein muss. Auf der anderen Seite spielt in kaum einem anderen staatlichen Organ in Deutschland die politische Bildung eine solch wichtige, institutionalisierte und historisch fest verankerte Rolle wie in der Bundeswehr. Basis hierfür ist das Konzept der Inneren Führung und das Leitbild des Staatsbürgers in Uniform.2
Nun liegt es in der Natur der Sache, dass in solchen Situationen – fast schon reflexartig – nach einem Mehr an politischer Bildung gerufen wird. Das ist nicht falsch, doch gilt es hierbei einiges zu beachten. Der ehemalige Bundesinnenminister Thomas de Maizière traf einst folgende Aussage: „Politische Bildung ist keine Feuerwehr, die einzusetzen ist, wenn es brennt. Politische Bildung ist eine kontinuierliche Daueraufgabe.“3 Über die Richtigkeit einer solchen Aussage waren sich im Kern alle Vertreterinnen und Vertreter des Netzwerks in Berlin einig. Was ist damit gemeint?
Es existieren schlicht und einfach keine wie auch immer gearteten methodisch-didaktischen Konzepte der politischen Bildung, mit denen – gleichsam eines „Heilmittels“ – eine Deradikalisierung, das spontane Aufbrechen von über einen langen Zeitraum gefestigten Weltbildern oder das Annehmen einer „korrekten“ oder „gewünschten“ Haltung bewirkt werden könnten.
Im Angesicht der Aufdeckung rechtsextremer Chatgruppen bei der Polizei in Nordrhein-Westfalen plädierte der hiesige Innenminister Herbert Reul dafür, Polizisten NS-Gedenkstätten besuchen zu lassen, weil „[…] solche Besuche viel mehr bringen als 100 Unterrichtsstunden Staatsbürgerkunde“4.
Der Gedanke dahinter ist u.a., dass ein emotionaler Zugang zielfördernder sei, als die reine Vermittlung von (Fakten-)Wissen. Dies klingt psychologisch zunächst nicht unplausibel. Nun ist es allerdings zum einen naiv zu glauben, dass ein solcher Ansatz automatisch eine quasi kathartische Wirkung habe, zum anderen zeigt es auch eine gewisse Hilflosigkeit im Umgang mit individuellen oder gesellschaftlichen Entwicklungen, die sich zielgerichteten Steuerungen entziehen.
Wenn unter den Vorzeichen von wachsendem Populismus und Radikalisierung von politischer Bildung gesprochen wird, wünschen manche sich vielleicht eine Rückkehr zu einer Art Re-education, wie sie die Westalliierten nach dem Zweiten Weltkrieg als Entnazifizierung und Demokratieerziehung in ihren Besatzungszonen betrieben haben. Andere wittern womöglich Anklänge an den Begriff der Staatsbürgerkunde in der DDR, welcher für Systemkonformismus und Indoktrination stand. Auch von (rechts-)populistischer Seite wird eine solche Sichtweise auf politische Bildung gelegentlich suggeriert.
Welchen Zweck kann, muss und darf politische Bildung dann aber in einer modernen pluralistischen Gesellschaft haben? Die entsprechende Zentrale Dienstvorschrift der Bundeswehr bringt es mit militärischer Knappheit auf den Punkt:
Politische Bildung
- vertieft geschichtliche Kenntnisse,
- erklärt politische Zusammenhänge,
- unterstützt politische Urteilsfähigkeit,
- verbessert die interkulturelle Kompetenz,
- fördert das Wertebewusstsein und
- regt zur aktiven Teilnahme an der politischen Willensbildung an.5
So ist es auch im zivilen Bereich. Darüber hinaus ist sie immer gekennzeichnet von einem Spannungsfeld zwischen Neutralität und Wertevermittlung. Sind Lehrende der politischen Bildung nun zu unbedingter Neutralität verpflichtet? Ein Sprichwort sagt „Wenn alles gleich gültig ist, ist alles gleichgültig.“ Das Bundesinnenministerium konkretisiert daher: „Politische Bildung in Deutschland ist unparteiisch, aber nicht wertfrei. […] Politische Bildung soll gerade dort ansetzen, wo der Zusammenhalt der Gesellschaft in der freiheitlichen Demokratie gefährdet ist.“6 Mit Zusammenhalt kann in einer pluralistischen Gesellschaft aber kein Zustand der Harmonie gemeint sein, sondern systemimmanent auch Dissens und Streit.
Das „Grundgesetz“ der politischen Bildung in Deutschland ist seit 1976 der Beutelsbacher Konsens. Er richtete sich damals primär an den schulischen Politikunterricht und besteht im Wesentlichen aus drei elementaren Geboten bzw. Prinzipien:
- Überwältigungsverbot (Lehrende sollen Schülern nicht ihre Meinung aufzwingen, sondern zu eigner Urteilsbildung befähigen und damit zu mündigen Bürgern heranbilden)
- Kontroversitätsgebot (Themen müssen kontrovers dargestellt und diskutiert werden, wenn sie dies auch in Wissenschaft und Politik sind. Meinungen müssen frei geäußert werden können)
- Schülerorientierung (die eigene Position soll analysiert werden, um sich aktiv am Prozess beteiligen zu können)
Die ersten beiden Punkte wurden und werden immer wieder kontrovers diskutiert. Kritiker monieren, dass ein dogmatisches Festhalten an Neutralität und Kontroversität in einer Zeit zunehmender gesellschaftlicher Polarisierung und Populismus nicht mehr angebracht sei. „Haltung“ ist hier das Stichwort.
Dies krankt an zwei Punkten. Erstens entstehen radikale oder verschwörungsideologische Überzeugungen nicht (nur) dadurch, dass ihnen zu wenig demokratische Haltung entgegengebracht wird. Sie entstehen auch durch eine Einengung des Meinungskorridors und der Negierung (begründeter) Zweifel. „Wo es zu wenig Konflikte zwischen etablierten demokratischen Parteien gibt […] fällt es populistischen Parteien leichter, sich als die ‚einzige echte Alternative‘ zum Status quo zu inszenieren, die den politischen Streit wieder anfachen kann.“7 Demokraten tun also gut daran, die Grenzen des Sag- und Ertragbaren möglichst weit zu setzen; auch wenn es manchmal weh tut. Politische Bildung muss nämlich „[…] zu einer pluralistischen Konfliktkompetenz befähigen. Es sollte ein Umgang mit Konflikten eingeübt werden, der nicht versucht, Meinungsverschiedenheiten durch die Herstellung eines Konsenses einzugrenzen und letztendlich ‚glattzubügeln‘.“8
Zweitens wäre es einige irrige Annahme zu glauben, ausreichende Informationen bzw. Wissen führten quasi mit mathematischer Notwendigkeit zu – im liberal-demokratischen Sinne – positiven politischen Einstellungen. Weltanschauungen entstehen durch die Interpretation solcher Informationen (und „der Bauch“ spielt dabei eine nicht zu unterschätzende Rolle). Zudem hat individuelle Radikalisierung wenig mit Intelligenz oder Bildung zu tun, sondern vielmehr mit fanatischen Schwarz-Weiß-Denkmustern und oft auch der eigenen Hybris.
Politische Bildung, wie sie im Idealfall sein soll, erfordert immer eine Grundbereitschaft, neue Erkenntnisse zu gewinnen und dementsprechend auch eigene Überzeugungen zur Disposition zu stellen. Für die allermeisten Menschen – auch für die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr – kann sie damit zu den demokratischen Tugenden der Besonnenheit und der Mäßigung beitragen. Für einige bleibt am Ende allerdings nur der Psychiater oder der Staatsanwalt.
Christian Hesse
1 Christoph Gramm in einer Anhörung des Parlamentarischen Kontrollgremiums des Deutschen Bundestags am 29. Juni 2020. https://www.bundeswehr-journal.de/2020/gestiegene-gewaltbereitschaft-in-allen-extremismus-bereichen/
2 „Alle Soldatinnen und Soldaten haben die Pflicht, sich politisch zu informieren und sich um Wissen und Bildung zu bemühen, damit sie dem Leitbild vom ‚Staatsbürger in Uniform‘ gerecht werden.“ Zentrale Dienstvorschrift A-2600/1, Nr. 627
3 In der Eröffnungsrede der Fachtagung „Gesellschaftlicher Zusammenhalt im Fokus von Politik und politischer Bildung“ am 6. Juli 2010. https://www.bpb.de/presse/49987/politische-bildung-ist-keine-feuerwehr
4 https://www1.wdr.de/nachrichten/landespolitik/reul-nrw-polizei-ns-gedenkstaetten-100.html.
5 § 33 Abs. 1 S. 3 SG
6 https://www.bmi.bund.de/DE/themen/heimat-integration/ gesellschaftlicher-zusammenhalt/politische-bildung/politische-bildung-node.html
7 Westphal, Manon: Kritik- und Konfliktkompetenz. Eine demokratietheoretische Perspektive auf das Kontroversitätsgebot. APuZ Nr. 13-14/2018. S. 13
8 Ebenda, S. 12

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Nach der US-Präsidentschaftswahl
Selten sind die US-Präsidentschaftswahlen von europäischer Seite mit derart hoher Aufmerksamkeit verfolgt worden wie in diesem Jahr. Ein amtierender Präsident, der sich der Wiederwahl stellt und zugleich schon im Vorfeld darauf hinweist, dass Wahlergebnisse gefälscht sein könnten und er gegebenenfalls den Ausgang der Wahl nicht anerkennen werde – und ein Gegenkandidat, von dem viele befürchten, dass er aufgrund seines fortgeschrittenen Alters seine Amtszeit nicht wird zu Ende führen können.
Aus europäischer Sicht hängt vom Ausgang der Wahl Einiges ab: die transatlantischen Beziehungen haben sich in den vergangenen Jahren unter Präsident Trump deutlich verschlechtert. Der bis dato so verlässliche Partner erwies sich als sprunghaft und unberechenbar– auch wenn die Kritik an der deutschen Zahlungsmoral in der NATO nicht gänzlich aus der Luft gegriffen ist. Zugleich wurde deutlich, dass die ehemalige „Schutzmacht“ USA in dieser Rolle nicht mehr zur Verfügung steht. Die europäischen Partner sind auf sich gestellt und müssen daher die europäischen und EU-eigenen Instrumente stärker ausbauen und nutzen.
Letzteres wird sich vermutlich auch mit der Wahl Joe Bidens nicht ändern. Zwar erwarten die europäischen Partner ein entspannteres Verhältnis und eine neue Gesprächskultur, dennoch werden die USA unter Präsident Biden nicht in die Rolle der „Weltpolizei“ zurückkehren. Ob z.B. der Abzug US-amerikanischer Truppen aus Afghanistan gestoppt wird, wird abzuwarten sein.
Eine Rückkehr zum Multilateralismus steht mit der Wahl Joe Bidens in jedem Fall an. Der Austritt aus der Weltgesundheitsorganisation (WHO) wird vermutlich zurück genommen werden, es könnte ein neues New-Start-Abkommen mit Russland geben, ebenso werden die USA voraussichtlich wieder dem Pariser Klimaabkommen beitreten. Das sind wichtige Schritte zur gemeinsamen Bearbeitung internationaler Herausforderungen: dem weiteren Umgang mit der Corona-Pandemie, internationale Abrüstung sowie der Bekämpfung des Klimawandels. Für diese Themen ist es unverzichtbar, die USA an Bord zu haben.
Innenpolitisch wird es Joe Bidens wichtigste Aufgabe und zugleich vermutlich größte Herausforderung sein, ein gespaltenes Land zu einen. Seine versöhnlichen Worte schon im Vorfeld des Wahlsieges lassen darauf hoffen, dass es nicht zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Anhängern und Gegnern Trumps kommen wird und auch in der Politik wieder moderatere Töne Einzug halten.
Die Tatsache, dass bereits mehrere Gerichte Klagen Trumps wegen vermeintlichen Wahlbetrugs der Demokraten aufgrund mangelnder Beweise abgelehnt haben, spricht für ein funktionierendes politisches System. Es besteht dennoch die Gefahr, dass dieses System, das über Jahrzehnte durch seine „checks and balances“ Vorbild für viele junge Demokratien war, Schaden nimmt, weil Donald Trump es durch offensichtlich haltlose Behauptungen zu untergraben sucht.
Der als „Trumpismus“ bezeichnete Populismus arbeitet mit Behauptungen, die sich nicht beweisen lassen, aber einmal in die Welt gesetzt ihr zerstörerisches Potenzial in den Köpfen der Menschen entfalten. Was aus europäischer Sicht nicht nachvollziehbar scheint: mehr als 70 Millionen US-Amerikaner*innen haben Donald Trump bei dieser Wahl ihre Stimme gegeben. Für viele US-Amerikaner*innen ist Donald Trump ein Mann, der hält, was er verspricht. Eine Eigenschaft, die für Politiker*innen nicht die schlechteste ist – zugleich ist Donald Trump weit davon entfernt, ein demokratischer Politiker zu sein. Letzteres würde voraussetzen, Institutionen zu achten und vor allem den Willen der Wählerinnen und Wähler zu respektieren. Das Ende der Auszählungen zu fordern, was im Umkehrschluss bedeutet, alle noch nicht ausgezählten Stimmen verfallen lassen zu wollen, hat mit Demokratie nichts gemein. In einer Demokratie zählt jede Stimme – auch die der Minderheiten! Deshalb bleibt zu hoffen, dass Trump einen Weg findet, die Wahlniederlage einzugestehen, ohne weiter gegen das politische System der USA vorzugehen, und Joe Biden ist zu wünschen, dass er die von Trump verursachten Verletzungen im System und vor allem in der Gesellschaft heilen kann.
Ines Gerke-Weipert

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