Veröffentlichungen 2018
Aus: Akademie Aktuell 2. Hj. 2018

Datenschutzgebiet, CC0 Creative Commons, Freie kommerzielle Nutzung, kein Bildnachweis nötig

Überwachungskamera, CC0 Creative Commons, Freie kommerzielle Nutzung, kein Bildnachweis nötig

Foto des Bundestrojaner-CCCeBIT-Award des Chaos Computer Clubs, wikimedia commons, public domain

Freiheit statt Angst 2013, Foto: Marcus Sümnick, Wkipedia Commons, CC BY-SA 2.0
Daten(schutz) und Sicherheit(swahn): Was macht die digitale Revolution mit unserer Demokratie?
Daten und Informationen gelten als eine der wichtigsten Ressourcen des 21. Jahrhunderts. Gleichzeitig sind die Verwendung und der Schutz eben dieser ein elementares Grundrecht in einem demokratischen Rechtsstaat. Doch das Recht der Informationellen Selbstbestimmung und der damit verbundene Schutz der Privatsphäre sind gefährdeter als je zuvor.
Die EU-Grundrechtecharta erwähnt den Datenschutz ganz explizit in Artikel 8 Absatz 1: „Jede Person hat das Recht auf Schutz der sie betreffenden personenbezogenen Daten.“ Das deutsche Grundgesetz kennt solch ein Datenschutz-Grundrecht nicht. Dennoch ist die Rechtsnorm der Informationellen Selbstbestimmung, welche eine besondere Ausprägung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts in Verbindung mit der Menschenwürde darstellt, ein vom Bundesverfassungsgericht bereits seit dem Volkszählungsurteil von 1983 ausdrücklich anerkanntes Grundrecht.
Am 25. Mai 2018 trat die Europäische Datenschutz-Grundverordnung in Kraft, welche nun als unmittelbar geltendes Recht in allen Staaten der Europäischen Union wirkt. Sie ersetzt die EU-Datenschutzrichtlinie aus dem Jahr 1995 und orientiert sich in vielen Punkten an den im internationalen Vergleich bereits strengen Regelungen des deutschen Bundesdatenschutzgesetzes. Ziel der Verordnung ist, neben der Harmonisierung des Datenschutzrechts in Europa, der Schutz der Grundrechte und Grundfreiheiten der Bürgerinnen und Bürger. Nationale Gesetze, aber auch behörden- und firmeninterne Strukturen und Prozesse müssen nun den verschärften Regelungen angepasst werden.
Was wird sich in Zukunft verändern? Einige wichtige Neuerungen seien hier exemplarisch genannt: Zukünftig müssen Betroffene einzelnen Zwecken der Datenverarbeitung (z.B. Profiling oder Direktmarketing) aktiv widersprechen können. Auch dürfen Verträge nicht mehr von der Einwilligung in die Datenverarbeitung abhängig gemacht werden. Die Auskunftsrechte der Betroffenen und die Pflicht zur Löschung falscher oder veralteter Daten wurden erweitert. Das sogenannte „Recht auf Vergessenwerden“ soll insgesamt gestärkt werden. Die Geldbußen im Falle eines Verstoßes (bis zu 20 Millionen Euro) wurden deutlich erhöht.
Doch die Datenschutzverordnung stößt nicht nur auf Beifall. Kritisiert wird u.a. die Lobbyarbeit von internationalen Konzernen, insbesondere aus den USA, doch auch das grundsätzliche Prinzip des „freien Verkehrs personenbezogener Daten“, also der schwerpunktmäßigen Betrachtung der Daten als Ware in einem harmonisierten Markt, wird in Frage gestellt. Der Münsteraner Professor für Informationsrecht Thomas Hoeren fragt, „wo die Menschenwürde und das Persönlichkeitsrecht bleiben, die doch die Mutter des Datenschutzes seien.“
Dies wirft ganz grundsätzlich die Frage auf, wie sich das Menschenbild, aber auch die Grundlagen einer freiheitlichen Demokratie in der sogenannten digitalisierten Gesellschaft verändern. „Die Digitalisierung ändert alles. Wann ändert sich die Politik?“ plakatierte die FDP im Bundestagswahlkampf. Doch wer weiß eigentlich, was sich hinter diesem Begriff verbirgt, der inzwischen das Schlagwort „Globalisierung“ als alles und nichts erklärende Phrase langsam ablöst?
Die technologische Transformation, bislang analoge Informationen zu digitalisieren, bedeutet zunächst einmal, Daten (schneller und effektiver) speichern, bearbeiten und verteilen zu können. Darüber hinaus lassen sich diese Daten aber auch vernetzen, miteinander in Beziehung setzen und z.B. über Algorithmen analysieren. Mit diesen Methoden lassen sich Prognosen über menschliche Verhaltensmuster erstellen, was letztendlich dazu führen kann, dass Dritte an bestimmten Stellen mehr über uns wissen als wir selbst.
Wie weit dieses technokratische Menschenbild der umfassenden Plan- und Berechenbarkeit geht, bringt Volker Tripp vom Verein Digitale Gesellschaft in einer zugespitzten Formulierung auf den Punkt: Er kritisiert, dass „Menschen im Internet eigentlich nur Wirtschaftsfaktor oder Sicherheitsrisiko sind“ oder zumindest von Unternehmen oder staatlichen Stellen mitunter als solche betrachtet werden. Tatsächlich ist die Rolle des Staates ambivalent. Auf der einen Seite verschärft er auf nationaler und supranationaler (europäischer) Ebene den Datenschutz und zeigt mahnend mit dem Finger auf Unternehmen wie Facebook, Google & Co. Auf der anderen Seite forciert der Staat eine Gesellschaftsordnung, die zu ihrer eigenen Sicherheit permanent überwacht und analysiert werden muss. In den vergangenen Jahren wurden von der Großen Koalition zahlreiche weitreichende Gesetzesänderungen auf den Weg gebracht, welche den Sicherheitsbehörden immer mehr präventive Überwachungsinstrumente an die Hand geben und damit ihre Möglichkeiten und Kompetenzen erweitern. Womöglich mit nicht unerheblichen „Kollateralschäden.“
An prominenter Stelle sei hier die sog. Quellen-Telekommunikationsüberwachung, kurz Quellen-TKÜ, besser bekannt als „Bundestrojaner“, genannt. Mit dieser Technik lässt sich die verschlüsselte Kommunikation über Computer und Smartphones unbemerkt auslesen, speichern und analysieren. „Die heimliche Infiltration eines informationstechnischen Systems, mittels derer die Nutzung des Systems überwacht und seine Speichermedien ausgelesen werden können, ist verfassungsrechtlich nur zulässig, wenn tatsächliche Anhaltspunkte einer konkreten Gefahr für ein überragend wichtiges Rechtsgut bestehen“, stellte das Bundesverfassungsgericht 2008 zur Frage der Rechtmäßigkeit von Onlinedurchsuchungen fest (BVerfGE 120, 274; 2. Leitsatz). Doch die hohen rechtlichen Hürden werden immer niedriger gelegt und der Ruf nach vorbeugender Überwachung ohne konkreten Anlass immer umfassender. Beispiele gibt es zuhauf: Vorratsdatenspeicherung, intelligente Überwachungskameras mit Gesichtserkennungssoftware, Einschränkung des Zahlungsverkehrs mit Bargeld oder die zwangsweise Aktivierung des elektronischen Identitätsnachweises (eID) im Personalausweis. Selbst bei Ordnungswidrigkeiten können Behörden automatisiert auf biometrische Daten zurückgreifen. In Österreich sollen nun sogar anonyme Prepaid-SIM-Karten verboten werden.
Das Gesetz zur Quellen-TKÜ und Online-Durchsuchung kam nun im letzten Jahr auf besonders perfide Weise zustande. Versteckt in einem Änderungsantrag zu einem anderen Gesetzentwurf wurde es von der Regierungskoalition ohne Beteiligung des Bundesrats, der Datenschutzbeauftragten und ohne die sonst vorgesehenen drei Lesungen im Bundestag verabschiedet. Ulrich Schellenberg, Präsident des Deutschen Anwaltvereins sagt dazu: „Praktisch ohne öffentliche Debatte wird versucht, mit Rechtsgrundlagen für Online-Durchsuchung und Quellen-TKÜ schwerste Grundrechtseingriffe in die Strafprozessordnung einzuführen.“ Die Maßnahmen sollen nämlich nicht nur gegen Terrorismus und Organisierte Kriminalität zum Zuge kommen, sondern auch zur Bekämpfung der Alltagskriminalität.
Ein Argument, das häufig fällt: „Wer nichts zu verbergen hat, der hat auch nichts zu befürchten!“ Unabhängig davon, ob dies in der Realität tatsächlich immer zutreffend ist, zeigt sich in dieser Aussage eine bedenkliche Kehrtwendung im Verständnis unseres liberalen demokratischen Rechtsstaats. Die Beweislast sollte eigentlich so lauten: Nicht der Staat gewährt (oder entzieht) den Bürgern Grundrechte, sondern die Bürger gewähren dem Staat Eingriffe in ihre Grundrechte (welche dieser zu begründen hat).
Natürlich ist es verständlich und legitim, dass eine Regierung ihren Ermittlungsbehörden die effektivsten Mittel zur Gefahrenabwehr und Strafverfolgung an die Hand geben möchte, damit diese technologisch nicht den Kriminellen hinterherhinken. Allerdings konnte bislang noch nicht nachgewiesen werden, dass die zuvor genannten Maßnahmen signifikant Wirkung gegen Schwerstkriminalität gezeigt hätten. Dazu müsste nämlich wesentlich mehr qualifiziertes Personal bei Polizei und Nachrichtendiensten eingestellt werden. Doch davor scheuen Bund und Länder gleichermaßen zurück und setzen vielmehr auf vermeintlich einfachere (und billigere) technische Lösungen.
Nicht zu unterschätzen ist auch folgender „Nebeneffekt“: Wer selbst im Privaten nicht mehr anonym ist, wer mit ständiger Bewertung seines Verhaltens durch Algorithmen rechnen muss, der wird sich möglicherweise in Zukunft überlegen, von bestimmten Grundrechten lieber keinen Gebrauch mehr zu machen, um nicht als verdächtig eingestuft zu werden. Beim umstrittenen Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) treten bereits solche Effekte auf, die als „Overblocking“ bezeichnet werden. Private Unternehmen müssen innerhalb kürzester Zeit (juristisch mehr oder weniger unqualifiziert) über strafbare Inhalte entscheiden. Mit der Konsequenz, dass im Zweifelsfall lieber gelöscht wird, um auf der sicheren Seite zu sein.
Persönliche Geheimnisse dürfen in einem demokratischen Rechtsstaat nichts Anrüchiges sein. Sie sind elementarer Bestandteil unseres freiheitlichen Menschenbildes und Teil der Grundrechte, deren Schutz den Staat als solchen überhaupt erst legitimiert.
Christian Hesse
Quellen und Weblinks:
- http://www.faz.net/aktuell/politik/online-durchsuchung-quellen-tkue-bundestrojaner-wird-gesetz-15071053.html
- https://www.novo-argumente.com/artikel/die_freiheit_bleibt_vollkommen_auf_der_strecke
- https://www.heise.de/newsticker/meldung/Rechtsexperte-Datenschutz-Grundverordnung-als-groesste-Katastrophe-des-21-Jahrhunderts-3190299.html
- https://www.zeit.de/digital/internet/2018-01/netzwerkdurchsetzungsgesetz-netzdg-maas-meinungsfreiheit-faq/seite-2
- https://www.datenschutz.org/eu-datenschutzgrundverordnung/

Foto: Akademie Biggesee
Offenheit, Toleranz und Begegnung
Über die Langzeitwirkungen internationaler Jugendbegegnungen
Internationale Jugendbegegnungen sind in vielen Ländern seit langem Bestandteil des schulischen und außerschulischen Bildungsangebotes. Zudem hat internationale Handlungskompetenz durch die fortschreitende Internationalisierung und Globalisierung an Bedeutung gewonnen und ist als zentrale Schlüsselqualifikation allgemein anerkannt. Hervorzuheben sind jedoch im Besonderen die nachhaltigen Wirkungen, welche durch Begegnungserfahrungen erzielt werden können. Erstmals wurden im Rahmen des Forschungsprojektes „Langzeitwirkungen der Teilnahme an internationalen Jugendbegegnungen auf die Persönlichkeitsentwicklung der Teilnehmer/innen“ an der Universität Regensburg der nachhaltige Einfluss internationaler Begegnung systematisch untersucht.
Die Studie wurde in Kooperation mit der Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung (BKJ), den internationalen Jugendgemeinschaftsdiensten (IJGD), dem Deutschen Bundesjugendring (DBJR) und dem Bayerischen Jugendring (BJR) durchgeführt. Exemplarisch wurden die vier am häufigsten durchgeführten Begegnungsformen (Schüler/innenaustausch, Jugendgruppenbegegnung auf Gegenseitigkeit am Ort der Partner, projektorientierte Jugendkulturbegegnung mit Gemeinschaftsunterkunft, multinationales Workcamp) in den Blick genommen, die jeweils 1 bis 4 Wochen dauerten und in Gruppen durchgeführt wurden. Die Datengrundlage bestand aus einer umfassenden Literatur- und Programmanalyse, 17 Expert/inneninterviews, 93 Interviews mit ehemaligen Teilnehmer/innen aus Deutschland und 40 aus dem Ausland. Hinzu kam die Auswertung von 532 Fragebögen, die auf Grundlage der Interviewergebnisse entwickelt und von ehemaligen Teilnehmer/innen aus Deutschland anonym ausgefüllt wurden. Dabei lag die Teilnahme an der Begegnung durchschnittlich 9,8 Jahre zurück und dauerte 3,2 Wochen. Das Durchschnittsalter bei der Teilnahme lag bei 17,3 Jahre (66% waren weibliche und 34% männliche Teilnehmer/innen). Für 60% der Befragten war es die erste Begegnungserfahrung.
Das überraschende Ergebnis der Studie ist: Selbst kurzzeitige internationale Erfahrungen haben einen nachhaltigen Einfluss auf die Entwicklung von Heranwachsenden. Auslandsaufenthalte fördern neben Sprachkompetenz auch Selbstsicherheit, Teamfähigkeit sowie Weltoffenheit. Teilnehmer/innen an internationalen Kurzzeit-Begegnungen in Gruppen können selbst 10 Jahre später von nachhaltigen Wirkungen auf ihre Persönlichkeit und weitere Biographie berichten. Sie können sich an eine Fülle von konkreten, für sie bedeutsamen Situationen aus der Begegnung erinnern.
Die Teilnahme an einer Begegnung fördert hauptsächlich die Persönlichkeitsentwicklung im Hinblick auf Selbstsicherheit, Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, soziale Kompetenz, Offenheit für neuartige Erfahrungen, interkulturelle Kompetenz und Identitätsbildung. Sie wirkt sich zudem positiv auf die beruflichen Perspektiven junger Menschen aus. Außerdem führt die Begegnungserfahrung zu lange anhaltenden Kontakten zwischen den Teilnehmer/innen, einer erhöhten Fremdsprachenkenntnis, einer positiven Grundhaltung dem Gastland gegenüber sowie zu weiteren Auslandsaufenthalten.
Im Kontext der Gesamtbiographie gaben beispielsweise 31% der Befragten an, dass das Begegnungserlebnis Anstoß für eine Kette weiterer Aktivitäten und Entscheidungen in ihrem Leben war. 41% halten bis heute Kontakt zu Personen, die sie bei der Begegnung kennengelernt haben, 71% der Befragten haben die Erfahrung als für sie persönlich sehr wichtig bezeichnet, und 51% der Befragten fällt es heute leichter, das Verhalten von Menschen aus anderen Kulturen zu verstehen.
Die Ergebnisse der Studie sind auch für die Bildungsarbeit der Akademie Bestätigung und Anlass zugleich, sich weiterhin in der Organisation, Planung und Durchführung internationaler Jugendbegegnungsprojekte zu engagieren.
Die Antwort auf die aktuelle Situation in der Welt heißt Offenheit, Toleranz und Begegnung. Internationale Jugendbegegnungen leisten hierzu einen wichtigen Beitrag: Sie eröffnen Begegnungsräume und fördern das Verständnis für kulturelle Verschiedenheit.
Dr. Robert Schmidt
Quellen und Weblinks:
- https://www.goethe.de/de/spr/mag/20695010.html
- https://www.bkj.de/foerderung-und-service/jugendkulturaustausch-organisieren/evaluation-und-forschung/studie-zu-den-langzeitwirkungen-internationaler-jugendbegegnungen.html
- https://www.ijab.de/was-wir-tun/publikationen-service/forschungsdatenbank/forschung/a/show/flyer-zur-positiven-langzeitwirkungen-internationaler-jugendbegegnungen-neu-aufgelegt/
- https://www.kmk-pad.org/service/publikationen/austausch-bildet-magazin.html
Aus: Akademie Aktuell 1. Hj. 2018

Otto Solms (2. v. l.), Foto: Deutscher Bundestag / Achim Melde

Martin Schulz und Angela Merkel, Foto: © European Union 2012 - Council of the European Union (Attribution-NonCommercial-NoDerivs Creative Commons license)

Demo für bundesweiten Volksentscheid, Foto: Mehr Demokratie e.V. (CC BY-SA 2.0)
Bundestagswahl 2017 – eine Nachbetrachtung
Am 24. September 2017 wählten 76,2 % der wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürger den 19. Deutschen Bundestag. Bei diesem handelt es sich um ein Parlament der Superlativen: Dank Überhang- und Ausgleichsmandaten wuchs der Bundestag von regulär 598 Mitgliedern (auch mit dieser Zahl schon eines der größten Parlamente der Welt) auf 709 Abgeordnete – der größte Bundestag in der Geschichte der Bundesrepublik. Mit sieben Parteien in sechs Fraktionen ist zudem die größte Parteienvielfalt seit 1957 im Parlament vertreten. Nicht ganz zu Unrecht wurden bereits kurz nach der Wahl Forderungen nach einer Verkleinerung des Parlaments und einer Obergrenze der Abgeordnetenzahl laut. Diesem Ansinnen schloss sich auch Hermann Otto Solms in seiner Rede als Alterspräsident auf der konstituierenden Sitzung am 24. Oktober an.
Bei Redaktionsschluss holten die Ereignisse diesen Artikel dann ein. Am späten Abend des 19. November erklärte die FDP die Sondierungsgespräche zu einer möglichen schwarz-gelb-grünen „Jamaika-Koalition“ nach vier Wochen für gescheitert. Wie es weitergehen wird, ob Deutschland eine Minderheitsregierung bekommt oder wir demnächst den 20. Deutschen Bundestag wählen werden, darüber lässt sich derzeit nur spekulieren (wenn Sie diese Zeilen lesen, wissen Sie vielleicht bereits mehr). Doch obwohl die aktuelle Zusammensetzung des Parlaments möglichweise in absehbarer Zeit schon wieder Geschichte sein wird, möchte ich an dieser Stelle einige grundlegende Überlegungen anstellen, die sicherlich auch in Zukunft noch weiter von Relevanz sein werden.
Vor der Bundestagwahl wurde gefühlt mehrmals täglich über den einschläfernden Wahlkampf geklagt, wobei sowohl die Ähnlichkeit der beiden Spitzenkandidaten, der nicht klar zu erkennende Kurs der (Noch-)Volksparteien als auch die mitunter merkwürdige Themenauswahl (oder Nichtauswahl) bemängelt wurden. Dabei gab es in der Bevölkerung durchaus eine Art von Wechselstimmung. Die Menschen wurden der Großen Koalition zunehmend überdrüssig und auch die Kanzlerin hatte erkennbar an Popularität eingebüßt. Die kuriose Situation war allerdings, dass – anders als 1998, 2005 oder 2009 – niemand so genau wusste, wo die alternativen Optionen liegen könnten oder sollten.
Wenn man sich die Umfragen vor der Wahl vergegenwärtigt, so war abzusehen, dass es neben einer Fortsetzung der Großen Koalition wahrscheinlich nur in einem Dreierbündnis zur Regierungsmehrheit reichen würde. Insofern überrascht es, dass das Thema „Jamaika“ nun ganz plötzlich vom Himmel gefallen zu sein scheint. Es war abzusehen, und strategisch vernünftig, dass die SPD aus Selbsterhaltungsgründen im Falle einer Wahlniederlage in die Opposition gehen würde, auch wenn einige Kabinettsmitglieder erkennbar signalisierten, dass sie ihre Ämter sehr gerne behalten würden und auch die Bundeskanzlerin wohl gerne die Regierung mit einer marginalisierten SPD fortgeführt hätte. Selbst wenn Angela Merkel und Martin Schulz im Wahlkampf mehr Profil gezeigt hätten, wäre doch immer noch die Frage offen geblieben, in welcher Konstellation sie die Regierungsverantwortung hätten übernehmen wollen. Lediglich, wer sich mit wem eine Zusammenarbeit auf keinen Fall vorstellen kann, wurde gelegentlich herausgestellt. Das Ausbleiben einer nüchternen Debatte jenseits von „Ausschließeritis“ mag sich nun rächen.
Es war ebenso abzusehen, dass die wiedererstarkte FDP für mehrere wahrscheinliche Optionen entscheidend sein würde, allerdings vermittelte Christian Lindner den Eindruck, lieber als Oppositionsführer in den Bundestag zurückkehren zu wollen. Nun haben die Liberalen hoch gepokert, und es bleibt abzuwarten, ob ihnen dies eher schaden oder nutzen wird.
Die Partei, bei der es – neben der Partei Die Linke – von vornherein eindeutig war, dass sie nicht an einer Regierungskonstellation beteiligt sein würde, erhielt vor und nach der Wahl einen außerordentlichen Teil der Aufmerksamkeit. Der Einzug der AfD in den Bundestag – so verständlich und berechtigt die Vorbehalte gegenüber Teilen des Personals auch sein mögen – wurde mit derart viel medialer Aufgeregtheit begleitet, als hinge davon das Schicksal der Republik ab. Dabei wurde bereitwillig auf jede Provokation der AfD eingegangen und jetzt stehen die Parteien davor, einen weiteren großen Fehler im Umgang mit der neuen populistischen Fraktion zu begehen. Beispiele hierfür sind bereits die Neudefinition des Amtes des Alterspräsidenten des Bundestages (Dienstalter statt Lebensalter) oder die anfängliche Weigerung der FDP, als Fraktion im Plenarsaal neben der AfD zu sitzen. Wenn nun versucht wird, mit den Tricks eines Winkeladvokaten die AfD zum Beispiel von Ämtern in Ausschüssen fernzuhalten oder bei den Reden der Abgeordneten demonstrativ den Saal zu verlassen, so bereitet man mit solch einem Verhalten die besten Voraussetzungen, damit die Partei noch viele Jahre perfekt die Rolle des Opfers des Establishments ausfüllen kann. „Sie sind gegen ihn, weil er für euch ist!“ Diesen Slogan ließ Jörg Haider bereits 1994 plakatieren – und das Prinzip funktioniert bis heute bei allen Populisten hervorragend.
Eine Anmerkung zum Schluss: Wir leben in Zeiten abnehmender Parteienbindungen und, zumindest in der Wahrnehmung, immer indifferenterer Positionen der Parteien. Gleichzeitig wird – mitunter verzweifelt – versucht, sich auch über Randthemen inhaltlich zu profilieren und abzugrenzen. Die als angeblich „alternativlos“ titulierte Politik der Kanzlerin und ihrer Regierung hat sicherlich auch einen Teil zu steigender Politikverdrossenheit und dem Aufstieg populistischer Bewegungen beigetragen. Eine Minderheitenregierung, wie sie derzeit diskutiert wird, hätte den Charme, das Parlament aufzuwerten und von einem „Abnick-Gremium“ wieder in das Zentrum des politischen Entscheidungsprozesses zu rücken.
Doch wäre es darüber hinaus nicht ebenfalls bedenkenswert, nicht zuletzt zur Bekämpfung latent steigender Resignation und zur Stärkung demokratischer Partizipation, über die Einführung von Elementen direkter Demokratie auf Bundesebene nachzudenken? Zugegeben, seit dem Brexit haben Plebiszite nicht unbedingt an Popularität gewonnen. Auf der anderen Seite zeigen Länder wie die Schweiz, dass direkte Demokratie (vernünftig in die politischen Prozesse eingebunden) zu einer Emanzipation des Souveräns, nämlich des Volkes, führen kann. Mit der CSU, der FDP und den Grünen wären drei Parteien in einer möglichen Jamaika-Koalition vertreten gewesen, die sich dies auf die Fahnen geschrieben haben.
Christian Hesse

„Jamaika“, Bildcollage: J. R. Kehren, Akademie Biggesee

Für Volksentscheide, Foto: Mehr Demokratie e.V., flickr.com, CC BY-SA 2.0

Wahlzettel, Foto: J. R. Kehren, privat
Mehr Demokratie
Die Bundestagswahl 2017 liegt hinter uns, die Ergebnisse sind bekannt und Christian Hesse hat sie in dieser Ausgabe von Akademie Aktuell dargestellt, beleuchtet, hinterfragt und eingeordnet. Die Sondierungsgespräche zwischen CDU, CSU, FDP und Grünen wurden am 20.11.2017 durch die FDP ergebnislos abgebrochen und eine Jamaika-Koalition wird es demnach so schnell wohl nicht geben. Dabei wäre eine Einigung der Parteien zur Regierungsbildung m. E. wünschenswerter als eine erneute Große Koalition oder gar Neuwahlen. Besonders wünschenswert wäre es, wenn die BürgerInnen das Gefühl hätten, dass die erzielten Kompromisse auch tatsächlich ihren Wählerwillen abbilden. Doch genau da liegt oft das Problem: Der Blick in die jüngere Vergangenheit Deutschlands zeigt, dass die Menschen nach Wahlen sehr schnell glauben, die Parteien und Politiker hielten sich nicht mehr an ihre Wahlversprechen und -programme oder könnten sich oft nicht mehr daran „erinnern“.
Leider haben sie dafür zahlreiche und „gute“ Beispiele und Gründe. Ein bekannter Politiker formulierte es sinngemäß einmal so: „Die Wähler wissen doch, dass die im Wahlkampf gemachten Aussagen und Versprechen nach der Wahl nicht umgesetzt und realisiert werden.“ Kann man die WählerInnen noch stärker vor den Kopf stoßen und Demokratieverdrossenheit fördern als mit so einer Aussage? Wohl kaum! Gerade noch im Wahlkampf umworben, haben die BürgerInnen den Eindruck, nicht nur sofort nach der Wahl in Vergessenheit zu geraten, sondern mit ihrem bei der Wahl geäußerten politischen Willen für das politische System schlagartig bis zum nächsten Wahlkampf uninteressant zu werden.
Dieser negativen Entwicklung sollte Einhalt geboten werden und zu Recht kommt die Forderung nach mehr direkter Demokratie
Die Politik sollte m. E. stärker an den Wählerwillen gebunden sein, sodass die BürgerInnen erkennen, Demokratie bedeutet mehr als nur alle vier Jahre bei der Wahl zwei Kreuzchen zu machen und in der übrigen Zeit für die Politik und Politiker uninteressant zu sein.
Mit Blick auf die eingangs benannte Situation nach der Bundestagswahl könnte das z. B. bedeuten, dass ein ausverhandelter und fertiger Koalitionsvertrag anschließend den WählerInnen zur Abstimmung vorgelegt wird. Die Koalition käme demnach erst dann zustande, wenn der Koalitionsvertrag die mehrheitliche Zustimmung der BürgerInnen erhält. Im Vorfeld wäre es Aufgabe der Politik, den BürgerInnen die Themen und konkreten Inhalte zu vermitteln und um Zustimmung zu werben. So könnte es gelingen, die Menschen stärker in demokratische Meinungsbildungsprozesse einzubinden und die PolitikerInnen enger an das Wahl-Volk und seinen Willen zu binden.
Die Politiker erhalten mit dieser „Nachwahl“ natürlich kein direktes und imperatives Mandat, aber die Wähler können später die Regierung noch besser an ihren Versprechen im Koalitionsvertrag messen und bei der nächsten Wahl ihre Schlussfolgerung daraus ziehen. Der finanzielle und organisatorische Aufwand einer solchen Volksabstimmung erscheint mir vor dem Hintergrund des Zugewinns an Demokratie und Bürgerbeteiligung gering und absolut vertretbar.
Mit dem Scheitern der Sondierungsgespräche steht die parlamentarische Demokratie in Deutschland nun vor einer Herausforderung. Die einen sehen die Chance in Neuwahlen, andere rufen nach der Großen Koalition und die SPD zur Verantwortung und Aufgabe ihrer vermeintlichen Blockadehaltung. Interessanter ist m. E. die Frage, ob unsere Demokratie nach 70 Jahren so weiterentwickelt werden kann, dass es künftig andere und bessere Lösungen gibt. Ergänzend zu meiner ersten oben genannten Idee schlage ich vor: Alle in den Bundestag gewählten politischen Parteien haben die Möglichkeit, Koalitionsverhandlungen zu führen. Sollten das Wahlergebnis und die Koalitionsverhandlungen so ausgefallen sein, dass kein Parteienbündnis mehr als 50 % der Sitze im Parlament innehat, dann käme es zu einer Minderheitsregierung, die ja auch jetzt nach dem Scheitern der Jamaika-Sondierungen im Raum steht. Eine solche Minderheitsregierung hat es auf Bundesebene bislang noch nie gegeben und sie ist bei den Politikern sehr unbeliebt, weil sie zu einer tendenziell instabilen Regierung und Regierungsarbeit führt. Ständig müssen z. B. neue Mehrheiten bei den Abstimmungen organisiert werden. Das ist mühsam und die Entscheidungen verlangsamen sich.
Möglicherweise „verwässern“ so der politische Wille der Regierung und der Wähler auch zu stark. D.h. die ursprünglichen politischen Ziele können nur zu einem geringen Teil im Sinne der Regierung durchgesetzt werden. Die Unzufriedenheit wächst allenthalben und nicht selten scheitern solche Regierungen und die Legislaturperiode endet früher. Dann kommt es zu (vorgezogenen) Neuwahlen. Und ob diese Neuwahlen zu wirklich anderen Ergebnissen und einer stabileren Mehrheit führen, ist und bleibt fraglich.
Wenn die Minderheitsregierung tatsächlich so unbeliebt und unattraktiv ist und Neuwahlen ebenfalls nicht sinnvoll sind, dann könnten wir auch über folgende Änderungen nachdenken: Wird ein Koalitionsvertrag eines Minderheitenbündnisses durch Volksabstimmung von den BürgerInnen angenommen, dann könnten den koalierenden politischen Parteien proportional zu ihren Stimmanteilen so viele zusätzliche Abgeordnetensitze zugeteilt werden, dass es zu einer knappen Mehrheit kommt. Damit wäre der Weg frei für eine handlungsfähige Regierung.
Es gibt nicht nur eine mögliche Demokratie, sondern viele sinnvolle Spielarten. Vor dem Hintergrund aktueller Herausforderungen – und der wachsende Populismus ist nur eine davon – brauchen wir auch den Willen und die Bereitschaft zur Veränderung im Sinne von mehr Bürgerbeteiligung und mehr Partizipation.
Die Wirklichkeit in Deutschland sieht indes leider anders aus: Politiker unterschiedlicher Parteien sprachen sich jüngst fast einmütig für eine Verlängerung der Legislaturperiode aus: Statt vier sollen es fünf Jahre werden. Das riecht nach weniger und nicht nach mehr Bürgernähe sowie nach weniger und nicht nach mehr Partizipation. Fehlt uns nur die Phantasie, der Mut oder der Wille zu mehr Demokratie?
Johannes Robert Kehren

Learning to Live Together, Bild: Council of Europe, https://www.coe.int/en/web/portal/-/learning-to-live-together-a-shared-commitment-to-democracy?

Der Europarat tagt, Bild: Council of Europe, http://media-gallery.coe.int/
Lernen, miteinander zu leben: Ein gemeinsames Engagement für die Demokratie
Konferenz über die Zukunft der Politischen Bildung und der Menschenrechtsbildung in Europa
Auf einer vom Europarat (Council of Europe) organisierten Konferenz „Learning to Live Together“ diskutierten vom 20. bis 22. Juni 2017 mehr als 400 Vertreter/innen von Regierungen, Bildungsinstituten und zivilgesellschaftlichen Organisationen aus ganz Europa über die Zukunft von politischer Bildung und Menschenrechtsbildung in Europa.
Bildung spielt eine zentrale Rolle bei der Förderung der zentralen Werte des Europarates: Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit sowie auch bei der Prävention von Menschenrechtsverletzungen. Bildung wird vermehrt als wirksamer Schutz gegen die Zunahme von Gewalt, Rassismus, Extremismus, Xenophobie, Diskriminierung und Intoleranz gesehen. Dieses wachsende Bewusstsein spiegelt sich in der Europarats-Charta zur Politischen Bildung und Menschenrechtsbildung durch die 47 Mitgliedstaaten des Europarates (Empfehlung CM/RC 2010) wider. Die Charta wurde über einen Zeitraum von mehreren Jahren entwickelt und ist das Resultat umfassender Konsultationen. Sie ist nicht bindend, aber gleichermaßen ein wichtiges Referenzdokument für all jene Akteure, die sich mit Politischer Bildung und Menschenrechtsbildung befassen.
Die Teilnehmenden der Konferenz im Frühjahr 2017 nutzten die Gelegenheit zum Erfahrungsaustausch über Erkenntnisse und gelungene Beispiele aus der Bildungspraxis. Grundlage für die Debatten war der Bericht zur Lage der politischen Bildung und Menschenrechtsbildung in Europa. Des Weiteren erarbeiteten sie Empfehlungen zu zukünftigen Handlungsfeldern und Kriterien zur Evaluation, um die Umsetzung der Europarats-Charta zu verbessern und nachhaltiger zu gestalten.
In seinem aktuellen Bericht zum Thema „Lage der Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit: Populismus – Wie solide ist das Gleichgewicht der Machtverteilung in Europa?“ (2017) hob Generalsekretär Thorbjørn Jagland die Bedeutung der politischen Bildung und Menschenrechtsbildung bei der Bewältigung der gegenwärtigen Herausforderungen hervor und unterstrich: „Politische Bildung und Menschenrechtsbildung sind folglich grundlegende Elemente jeder Maßnahme zur Bekämpfung von Diskriminierung, Vorurteilen und Intoleranz und damit zur nachhaltigen und gezielten Verhütung und Bekämpfung von gewaltbereitem Extremismus und Radikalisierung.“
Auf welche Weise können Politische Bildung und Menschenrechtsbildung somit zur Bekämpfung von Diskriminierung, Intoleranz und Extremismus beitragen? Als Ergebnispapier der Konferenz wurde ein vierseitiges Dokument mit dem Titel „ Declaration, Key Actions and Expected Outcomes on Education for Democratic Citizenship and Human Rights“ vom Europarat im Juli 2017 veröffentlicht.
Wollte man die Ergebnisse zusammenfassen, könnte besonders hervorgehoben werden, dass Politische Bildung und Menschenrechtsbildung eine gesamtgesellschaftliche bzw. eine gesamteuropäische Aufgabe darstellen sollten. Sie betreffen eben nicht nur die politischen Bildungsinstitutionen und das Schulwesen, sondern eine ganze Reihe von Akteuren, darunter politische Entscheidungsträger/innen, Bildungsfachleute, Lernende, Eltern, Behörden, Nichtregierungsorganisationen, Jugendorganisationen, Medien und die allgemeine Öffentlichkeit. Politische Bildung und Menschenrechtsbildung sind integraler Bestandteil des Rechts auf Bildung und die Verantwortung dafür reicht vom Kindergarten bis zum Ministerium. Wir alle tragen die Verantwortung für unsere europäischen Werte.
Dr. Robert Schmid
Quellen und Weblinks
- Ergebnispapier: „Learning to Live Together: a Shared Commitment to Democracy“ (engl.)
- Europarats-Charta zur Politischen Bildung und Menschenrechtsbildung (deutsch)
- Report on the State of Citizenship and Human Rights Education in Europe (engl.)
- Thorbjørn Jagland (4/2017): Aktueller Bericht des Generalsekretärs über die Lage der Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit in Europa (engl.)
- Videoerklärung Thorbjørn Jaglands‘ im Human Rights Channel des Council of Europe

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